Wie real und wie symbolisch ist Dokumentarfotografie?

Einige persönliche Gedanken

Wenn man sich mehr als zehn Jahre theoretisch und praktisch mit Dokumentarfotografie beschäftigt, dann tauchen neue Fragen auf.

Neben technischen Fragen

  • wie man fotografiert

gesellen sich soziale Fragen

  • wie man die Fotos gebraucht.

Und dann kommen plötzlich Fragen nach der Symbolik der Fotos – zumindest bei mir.

Da in der letzten Zeit viele meiner dokumentarischen Fotos in Remscheid entstehen, sind die dortigen lokalen Themen automatisch auf den Fotos.

Remscheid liegt in Amerika, auch wenn es in Deutschland liegt.

So weit bin ich schon.

Aber es geht noch weiter.

In Remscheid wurden in letzter Zeit im Rahmen einer Marketingaktion an zentralen Stellen Werbebotschaften aufgestellt.

Diese sollen offenkundig als Überbleibsel einer „Löwenparade“ mit Beigeschmack noch an vielen anderen Stellen stehen.

Diese Art der symbolischen Stadtentwicklung auf der Grundlage eines Nazidenkmals wäre schon Grund genug, um über den symbolischen Wert von dokumentarischen Fotos nachzudenken.

Aber ich möchte dies alles noch etwas erweitern.

Betrachten wir das folgende Foto:

Foto: Michael Mahlke
Foto: Michael Mahlke

Es handelt sich hier um die Kreuzung am „Zentralpunkt“, die zugleich der Verkehrsknotenpunkt in Richtung Südbezirk mit den größten Arbeitgebern von Remscheid ist.

Dabei handelt es sich u.a. um das Sana-Krankenhaus und die Firmen Vaillant, Mannesmann sowie andere Firmen drumherum. Es sind alles private Gesellschaften.

Und hier auf dem Berg thront nun eine Kopie des Nazidenkmals mit dem Symbol einer Zeitarbeitsfirma.

Das ist in sich schon symbolisch.

Das Jobcenter in Remscheid stellte in diesem Jahr fest: “Der Remscheider Arbeitsmarkt ist geprägt durch die Zeitarbeit.”

Insofern symbolisiert diese Figur als ein Denkmal etwas zum „Denk mal!“.

Damit aber nicht genug.

Welches der Unternehmen in diesem Stadtteil greift eigentlich nicht auf Zeitarbeitsfirmen zurück?

So ist für mich die Symbolik viel tiefer.

Hier wird der Triumph einer Gesellschaft symbolisiert, die immer mehr Arme in Arbeit und ohne Arbeit hervorbringt und soziale Verunsicherung in jeder Form.

Daß in diesem Stadtteil auch ein Teil der ganz Reichen wohnt, ist vielleicht die andere Seite und ein Grund mehr, warum es gerade hier steht.

Aber damit ist der Symbolgehalt immer noch nicht hinreichend beschrieben.

Denn hier steht nicht nur etwas, es steht auch auf etwas.

Genau, es ist eine rechteckige Box.

Foto: Michael Mahlke
Foto: Michael Mahlke

Auch dies ist ein Symbol.

Remscheid wird rechteckig.

Die Industriehallen-„Architektur“ des total häßlichen Funktionalismus greift an jeder Ecke um sich.

Eigentlich ist es schon schlimm genug, wenn in einem Industriegebiet solche hässlichen Hallen als Arbeitsboxen stehen. Sie sprechen eine andere Sprache wie die früheren Fabrikgebäude.

Aber nun kommt dies massiv an jeder Ecke.

Private Neubauten, Einkaufszentren und nun auch noch als „krönender“ Abschluß der Fuß eines denkwürdigen symbolischen Aktes des Stadtmarketings.

So ist auch hier eine Symbolik zu finden, die das Ergebnis der Tatsache ist, daß das Sein das Bewußtsein bestimmt.

Dies alles zeigen die Fotos.

Foto: Michael Mahlke
Foto: Michael Mahlke

Aber das meiste davon sieht man nicht direkt.

Es ist in der Symbolik solcher Fotos angelegt, besser: in der Situation, die hier fotografiert wurde.

So kann ein Foto symbolisch etwas zeigen, was sich dem erschließt, der um die Zusammenhänge weiß.

Genau deshalb ist die Aussagekraft eines Fotos, selbst wenn es nur eine „oberflächliche“ Aufnahme ist, je nach Wissen und Zeitpunkt enorm groß.

Und es bedeutet, daß man den öffentlichen Raum nicht genug aufnehmen kann, weil Fotos gute Quellen für die Betrachtung der Realität in Geschichte und Gegenwart sind.

Denn was für Fotos aus Remscheid gilt, gilt eigentlich überall.

Insofern ist Remscheid fotografisch der Nabel der Welt – aber nur insofern.

About Michael Mahlke

Früher habe ich Bücher geschrieben über den Nationalsozialismus, die Gewerkschaftsbewegung, das Leben der kleinen Leute im Arbeitsleben, Ausstellungen organisiert, Lernsoftware entwickelt und Seminare zu Themen wie „Global denken vor Ort handeln“ geleitet. Nach der Grenzöffnung 1989 qualifizierte ich Menschen und half, in Umbrüchen neue Lebensorientierungen zu finden und dann wechselte ich in die industrielle Organisationsentwicklung. Oft war ich einer der wenigen, der das Sterben der Betriebe und das Sterben der Hoffnung der Menschen sah. Ich wollte nicht nur helfen sondern auch festhalten für die Nachwelt. Denn die Worte zeigten keine Gesichter und die Geschichten erzählten keine Momente, so wie ich es erlebt hatte. Wenn ich das alles damals schon nicht aufhalten konnte, dann wollte ich es wenigstens festhalten. So kam ich zum Fotografieren. Mehr hier - http://dokumentarfotografie.de/2022/09/17/der-fotomonat-und-seine-zeiten/

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